Es beginnt im Dunkeln. Motorsägengeräusche zerschneiden die Finsternis. Oder zerschneiden sie den knallpinken Körperhaufen links hinten? Die drei Darsteller Juan Carlos Lérdia, Gilles Viandier und David Climent liegen übereinander, ineinander. Als wären sie ein Körper, der sich langsam entwindet, sich trennt. Anfangs bewegen sie sich meist gemeinsam, manchmal gegeneinander.

Mit „Al Baile“ zeigt der Tänzer Juan Carlos Lérida den dritten Teil seiner Trilogie über die „Körper des Flamenco“ – nach „Al toque“ (Gitarrenspiel) und „Al cante“ (Gesang) steht nun der Tanz im Fokus. (Aus der Ankündigung auf flamenco-divino)

 

Teil eins: woher? Flamenco-Ästhetik.

Immer in einer Art Beziehung zueinander „stehend“, erarbeiten die drei Tänzer im Laufe des ersten Teils soetwas wie mögliche Herleitungen charakteristischer Flamencotanz-Situationen. Typische Posen, die an Basketball, Speerwurf oder Fußball erinnern und vielleicht von dort kommen, dienen ihnen als Ausgangspunkte ihrer Untersuchungen. Es ist oft spielerisch, erinnert an Volkstanz oder ein geselliges Beisammensein stolzer Hähne. Wir hören Swingmusik, Techno und auch Staying Alive (Bee Gees). Als zerhackte Version. Übrigens kam auch schon im Stück „Al Cante“ ein Lied aus dem kollektiven Pop-Gedächtnis vor, nämlich David Bowies Space Oddity. Mit dem Unterschied, dass in „Al Baile“ niemandem Zeit bleibt, sich in den Disco-Groove einzuschwingen. Die konsequente Zerstückelung schmerzt fast. Was wir auch hören, wenn wir genau hinhören, sind Geräusche von den Füßen, die eher nach Jazz-Improvisation klingen als nach klassischer Escobilla. Aufregend. Diese Zapateados liegen näher am Fallen als am Stampfen – eine Fortführung von dem, was uns Juan Carlos Lérida in „El Aprendizaje“ vorgetorkelt hat.

Der erste Teil von „Al Baile“ besticht durch die Dynamik der drei Darsteller, Tänzer, Sich-bewegenden. Manchmal, wie ein Zoom, fokussieren sie sich auf konkrete Details der Körper – Ellbogen, Handgelenke oder Verschraubungen – und entwickeln rundherum soetwas wie Heldengeschichten – was war vorher? was ist dann passiert? Wie war es nachher?

Übergang: Schnittmuster im Wind

Sowohl Bühnenbild als auch Kostüme und Lichtkomposition sind außergewöhnlich stimmig und klar. Die Bühne des Großen Saals im Theater Mercat de les Flors ist riesig. Durch die Licht-Konzeption ist es statt riskant sogar notwendig, so viel Platz und so viele Räume zu haben. So hat zum Beispiel jeder Tänzer neben der zentralen Bühnenfläche noch seinen eigenen Rückzugsbereich, in dem er seine Spiralen untersucht. Die zentrale Bühnenfläche ist durch einen andersfarbigen Boden markiert und nach hinten abgetrennt mit einem Vorhang aus Schnittmustern. Sind es tatsächlich Schnittmuster und eine absichtliche Referenz an „Das Schweigen der Lämmer“ oder sah das nur ich so? Wessen Schnitte sind das? Die Schnittmuster hängen an einem Vorhangsseil an Kleiderhaken und werden hin- und hergeschoben. Als Übergang zwischen den beiden Teilen von „Al Baile“ läßt Gilles Viandier um seinen ohnehin langen Körper eine große, vielschichtige Gestalt entstehen: Er kleidet sich in Unmengen dieser Schnittmuster, sie hängen an ihm wie ein überdimensionales Kleid, unter dem die anderen beiden durchgeschleust werden. Dann dreht er sich wie ein Derwisch und es ist zauberhaft. Papier flattert im Wind.

Teil zwei: woher? Eine Geschichte.

Als der zweite Teil beginnt, frage ich mich: wieso? Was war der erste Teil? Möglicher Weise eine Sammlung von Geschichten, eine Sammlung von Flamenco-Repertoire? Als könnte es nur dann weiter gehen oder los gehen, wenn die einzelnen Elemente des Körpers erarbeitet sind. Vielleicht. Der zweite Teil wird in das Bild hineingewischt wie eine Übermalung. Er wird in die Ohren gespült durch anderssprachige Fernseh- und Radio-texte über den Flamenco. Man muss nicht alles verstehen um zu erkennen: wir hören typische Erklärsätze über den Flamenco, seine Herkunft, seine Kultur, sein Da-Sein. Erklärt für ausländisches Publikum vor den Radio/Fernsehgeräten. Juan Carlos Lérida schlüpft in die Rolle eines Tänzers, der zurück blickt. Er spricht, erinnert sich voll Schrecken und Orientierungslosigkeit. Erzählt von Operationen – Flamenco hinein oder herausoperiert. Etwas wird verändert. Vielleicht ist es seine eigene Geschichte, die hier als Ausgangspunkt dient. David Climent schlüpft in die Rolle vieler FlamencolehrerInnen. Er zupft, schiebt, verdrecht, zwickt den nackten Oberkörper Léridas. Er brüllt nach Fleisch, Soleá, Bulerías, Nieren, Eleganz, Sevilla. Sie wirbeln sich in Extase und Gilles Viandier wirft sich dazu. Sie schreien, schlagen, ziehen an ihren Körpern, winden sich ineinander. Ein Fleischhaufen. Sie entwinden sich wieder, um sich wie in einer Stroboskop-Bewegungsstudie übereinander zu schlichten.

 

Der Teil danach: was? Flamenco.

Wenn ich genau hinschaue und höre – was? Ich sehe Verschraubungen im Körper. Verdrehungen und Spiralen. Ja, Spiralen. Ich sehe und höre Stakkato. Unterbrechungen, die aus dem Gleichgewicht bringen. Ich sehe typische Posen. Ich erkenne Beziehungen, Konkurrenz und Kopie. Ich höre keine Flamencomusik – aber es geht um den Körper, den Tanz. Brauche ich Flamencomusik für Flamencotanz? Ich sehe auch ein Festhängen in Vergangenheit. Ich sehe Brutalität und Poesie. Ich sehe Pink. Ich sehe Referenzen auf andere Tanzstile und fürchte, dass diese belächelt werden im Unterschied zu Referenzen auf Sport, Spiel und Kampf. Wenn das alles Flamenco ist (für mich ist es das auch), dann sehe ich Flamenco.

Das nächste Mal

Es gibt am 13.April 2017 die nächste Gelegenheit „Al Baile“ zu sehen – beim Flamencofestival des Tanzhaus nrw in Düsseldorf. Und ich finde, dass ihr euch das Stück ansehen sollt. Wegen der drei Tänzer/Darsteller sowieso, ihrer Bewegungsqualität und Dynamik. Und auch wegen dem klaren Standpunkt. Das! Flamencotanz! Auch wegen dem gesamten Stück, seinem Aufbau, der Farbe, dieser irren Intensität und dem Erzählstil.

Dirección y Coreografía/Direction and Choreography: Juan Carlos Lérida
Dramaturgia/Dramaturgy: Roberto Romei.
Interpretación/Interpretation: Juan Carlos Lérida, Gilles Viandier, David Climent
Diseño de Iluminación/ Light Designer: Marc Lleixa
Asesoría de Movimiento/ Advising movement: Lipi Hernandez.
Vestuario- Escenografía/Set Designer: JC