Der Flamencogitarrist Johannes Ratsch wird von seinen Freunden einfach Josel genannt. Er lebt und arbeitet in Dresden. Zu seinen Projekten zählt das Quartett „Taconeo“, das eine Mischung aus Flamenco, Jazz und Bossa Nova ist und die Gruppe „Mestizo Flamenco“, mit der Tänzerin Nanako Aramaki und dem Sänger José Ramírez. Gemeinsam mit der japanischen Flamencotänzerin Migiwa Shimizu leitet er „El Patio“ in der sächsischen Hauptstadt. Hier werden Tanz-, Palmas- und Gitarrenkurse angeboten. Mit seinen 29 Jahren ist Josel der Motor der Flamencoszene in Dresden oder wie es Reyko Schlee einmal sinngemäß formulierte, die Rettung für die deutschen Flamencogitarristen.

Während sich die DDR 1986 so langsam auf ihren Untergang vorbereitet, Gorbatschows frischer Wind in Form von Glasnost und Perestroika auch über die Dresdener Elbwiesen fegt, wird Josel geboren. Drei Jahre später fällt die Mauer und Josel räumt zu Hause den Küchenschrank aus. Besonders die Töpfe und Pfannen haben es ihm angetan. Auf alles, was Lärm macht, trommelt er herum. Die Mutter hält sich zwar manchmal die Ohren zu aber erkennt gleichzeitig die rhythmische Begabung ihres Kleinen und lässt ihn unter Anleitung eines Lehrers fachgerecht im Viervierteltakt trommeln.

Die Jahre gehen ins Land. Mit Takt und Ton kennt sich der mittlerweile pubertierende Josel aus. Von seinem Schlagzeuglehrer, der nun auch ein Freund der kleinen Familie geworden ist, bekommt er eine E-Gitarre geschenkt. Das neue Instrument wird sofort untersucht und bespielt. Josel experimentiert mit Heavy Metal, den Ärzten und Bob Marley, fummelt an den Saiten, findet Akkorde, dreht auf. Während seine Kumpels schon den Mädels hinterher gucken, lässt Josel die Gitarre nicht mehr los. In der Schule wirkt er unkonzentriert, aber die Finger treffen immer besser. Und wer weiß, wenn er erst mal so richtig Gitarre spielen kann, dann klappt es vielleicht auch mit den Mädels.

Das neue Jahrtausend hält für Josel eine Überraschung bereit. Er lernt mit 16 Jahren seinen leiblichen Vater kennen. Nach der anfänglichen Aufregung und Skepsis findet er den Waldorflehrer und Musikliebhaber, der selbst Jazzgitarre spielt, schnell ziemlich cool. Die beiden freunden sich an, reden
über Musik und plötzlich dreht sich da eine Platte auf dem Teller, deren Sound Josel in Staunen versetzt. Die schnellen Gitarrenläufe werden von diesem Typen nur mit den Fingern gespielt. Das geht doch nicht, denkt Josel. Was sich da dreht und aus den Lautsprecherboxen spritzt ist der Klassiker: „Friday Night in San Francisco“. Von nun an wird alles anders, die elektrische Gitarre wird gegen Nylon ausgetauscht und die erste richtige Flamenco-CD gehört: „Siroco“ von Paco de Lucía. Schnell spricht sich in der Musikszene in Dresden-Neustadt herum, dass es da einen gibt, der Flamenco macht. Sie wissen es vom Fensterputzer Frank, der alle kennt. Dabei weiß doch Josel noch längst nicht, wie das geht mit dem Flamenco. Er hat mal was von der Spanischen Kadenz gehört, der Akkordfolge Am, G, F, E aber mehr auch nicht. Irgendwie schrubbt er diese Folge herunter, aber nach Flamenco klingt das nicht, mehr wie die Gipsy Kings für Arme. In Gedanken versunken und sich schon als Flamenco fühlend läuft er an einem Second Hand Shop vorbei. Hinter ihm geht die Tür auf und er hört die Stimme von Martin Lorke, dem Betreiber des Shops: „Hey, du bist doch der Flamencogitarrist, lass uns mal zusammen spielen“. Josel möchte vor Scham im Boden versinken.

Was soll man machen, wenn man keinen Bock auf Schule hat und nur Gitarre spielen will? Josel packt das Glück bei den Hörnern und kann es kaum fassen, dass er nach der 10. Klasse tatsächlich einen Ausbildungsplatz als Zupfinstrumentenmacher im vogtländischen Klingenthal erhält. Da kommen fünf Plätze auf hundert Bewerber. Drei Jahre wird er nun mit unterschiedlichen Holzsorten zu tun haben, wird sägen, kleben, schleifen und Gitarren von innen kennen lernen. Auch selbst welche bauen. Das ist Josels Wunsch. Aber noch mehr wünscht er sich Zeit zu haben, viel Zeit für Flamenco. Die Geschichte mit Martin Lorke ging ja zum Glück gut aus. Der Gitarrist zeigt ihm die ersten Rasgueadotechniken und will gar nicht wissen, was Josel so drauf hat. Jede freie Minute wird nun genutzt. Immer mehr klingt das, was Josel an Technik einsetzt, die Arpeggios und Picados nach Flamenco, nach solistischem Spiel. Aber irgendwas bleibt geheim, so unerklärlich. Wie soll er das nur schaffen, den Sängern, die doch bestimmt nur den Cante improvisieren mit seinen Tönen zu folgen, wie geht das mit diesem mysteriösen Compás, von dem alle sagen, wer ihn hat, der könne ihn nicht erklären. Josel ist nahe am Verzweifeln und trifft Swen Kischel. Der hat es drauf. Von ihm lernt der angehende Flamencogitarrist, dass alles erklärbar ist, alles Struktur und Logik besitzt. Nach einem Jahr hat Josel die rhythmischen Grundmuster der Palos von Soleá, Guajira oder Taranto und Alegrías drauf. Nun fühlt er sich bereit, den nächsten Schritt zu wagen. Aber er weiß, wenn sich eine Tür im Flamenco öffnet, steht man prompt vor den nächsten zehn verschlossenen.

An die in Leipzig lebende Tänzerin Irene Àlvarez heranzukommen, ist gar nicht so einfach. Auf seine Mails mit der Frage, ob er in ihren Kursen die Tänzerinnen begleiten könne, bekommt der nun 20jährige keine Antwort. Zufällig trifft er die Tanzlehrerin zwischen Dresden und Berlin in einem spanischen Hotel und schafft es, sie verbal von sich zu überzeugen. Irene probiert es mit Josel. Daraus werden drei Jahre. Einmal die Woche wird er hart ran genommen. Jedes mal betritt er mit Angstschweiß ihr Studio. Von ihr lernt er, was es heißt, zu begleiten. Irene wird zu seiner wichtigsten Lehrmeisterin: „Josel, hier enden wir auf Neun, du darfst nicht bis Zehn spielen. Du musst hier das rhythmische Fußmuster unterstützen und darfst nicht einfach nur spielen“. Die Zeit geht ins Land und Josel wird immer sicherer. Der Flamenco fließt. Wenn er sich früher nur Sologitarrenstücke anhörte, wartet er nun auf den Gesang im Stück. Auch seinen Gesellenbrief als Zupfinstrumentenmacher hat er in der Tasche, wagt sich sogar am Ende seiner Ausbildung an den Bau einer Flamencogitarre heran, die jedoch nicht fertig wird. Das Spielen ist ihm wichtiger. Er nimmt Jobs an, auf die er im Nachhinein lieber verzichtet hätte. Da gibt es eine Frisiersaloneröffnung mit spanischem Stier im Hintergrund, dort eine Reiseverlosung nach Spanien auf dem Bahnhof. Josel bemerkt: je anspruchloser er spielt, desto mehr toben die Leute. Das ist nicht sein Ding. Er reist durchs Land, lernt die Hamburger und Berliner Flamencoszene kennen, findet überall Freunde und Kollegen, die mit ihm gemeinsame Sache machen. Er reist nach Spanien, nimmt unterricht bei Miguel Pérez und Miguel Ángel Cortés, begleitet Kurse von Leonor Leal.

Die Musiker kommen von überall her. Sie leben auch in Dresden. Achtzig Prozent seiner Musikerfreunde sind Ausländer: Spanier, Russen, Latinos oder Japaner. In Dresden-Neustadt ist das Leben recht harmonisch, verschiedene Kulturen lebendort im alternativsten Teil Dresdens zusammen. In der sächsischen Hauptstadt gibt es jedoch nur eine geringe Anzahl an Flüchtlingen. Josel schämt sich Montag für Montag aufs Neue für seine Mitmenschen, die unter dem Sammelbegriff „Pegida“ in Massen durch die Innenstadt ziehen und Hassparolen skandieren. Josel liebt seine Stadt, die Elbe, die Architektur, das Grün, er fühlt sich als Dresdener und er will seine Heimat auch nicht verlassen. Aber viele seiner Freunde aus anderen Ländern sind schon gegangen. Sie hatten keinen Bock mehr auf die alltäglichen Anfeindungen. Die japanische Tänzerin Migiwa Shimizu fährt deshalb nur noch mit dem Auto durch die Stadt, ein afrikanischer Freund ist nach Hamburg gegangen, weil er täglich angepöbelt wurde. Eine spanische Freundin wird im Bus aufgefordert beim telefonieren deutsch zu sprechen, einem Kolumbianer wird ein benutztes Taschentuch in den Einkaufswagen geworfen.

Vor dem Mauerfall wurde das in einem Tal gelegene Dresden auch das „Tal der Ahnungslosen“ genannt, weil es schwierig war, Westfernsehen zu empfangen. Josel gehört mit seinen 29 Jahren schon zu einer Generation, die keine Angst vor dem bunten Mix des Lebens hat und somit aus dem Tal der Ahnungslosen ausgebrochen ist. Er beweist es mit seiner weltoffenen Musik täglich aufs Neue. Und Flamenco ist schließlich auch in einem Schmelztiegel der Kulturen entstanden.