Francisco Hidalgo ist ein junger Tänzer aus Algodonales, einem kleinen Dorf im Nordosten der Provinz Cádiz. Wie viele Künstler dieser Generation ist er auf der Suche. Auf der Suche nach einer eigenen Sprache, auch auf der Suche nach sich selbst. Nach seinem großen Erfolg mit seinem traditionellen Stück ‚Ver, oir y bailar’ beim Festival de Jerez im letzten Jahr wagt er sich mit seinem neuen Stück ‚Moscas y diamantes’ in völlig andere Gefilde. Im Interview zeigt er sich sehr offen und lässt uns in seine sensible Künstlerseele blicken.

Du lebst ja in Madrid, aber woher kommst du eigentlich?

Ich stamme aus Algodonales, einem kleinen Dorf in der Provinz Cádiz, ich zog aber ziemlich bald nach Sevilla und verbrachte eine lange Zeit zwischen Sevilla und Barcelona, tanzte im Tablao El Cordobés, aber auch in Sevilla, und ich kam nach Madrid, um im Corral de la Morería zu arbeiten. In der Bewegung der Tänzer in Madrid und in der aktuellen Kunstszene sah ich etwas, das mich interessierte, vor allem die Freiheit, die es hier gab, wenn es um den Tanz ging. Ich kam aus Sevilla, wo ich sehr in die klassische Welt involviert war, die Tablaos, die sevillanische Schule, Rafael El Negro, Enrique el Cojo, Matilde Coral, die ich natürlich liebe, aber in Sevilla sind die Tablaos sehr traditionell, das Bild des Bailaors, der Bailaora, die Tänze selbst, die ich liebe und verehre, aber als ich nach Madrid kam, sah ich eine gewisse Freiheit in der Bewegung, in der Art zu tanzen, wie die Künstler die Shows gestalteten. Sie suchten nach Freiheit in der Bewegung, in der Art zu tanzen, wie die Künstler die Shows gestalteten, sie waren auf der Suche nach anderen Formen und ich sagte mir – ich muss bleiben – und ich blieb und bin jetzt seit elf Jahren hier.

Hast du gefunden, was du gesucht hast?

Ich bin gerade dabei es zu finden. Schön langsam ergibt alles einen Sinn. Denn in diesem neuen Stück geht es ein bisschen darum, dass ich es lange Zeit nicht geschafft habe, ich selbst zu sein in meinem Tanz. Seit ich als Kind in Sevilla bei Manolo Marín und Manuel Betanzos studiert habe, war mir die Bedeutung der Persönlichkeit im Tanz sehr bewusst. Und ich dachte immer, ich weiß nicht warum, aber ich dachte immer „Ich möchte persönlich sein“, aber ich wusste nicht, wie das ging. Ich hatte nicht das Bewusstsein, das Wissen oder die Erfahrung, um die Teile des Puzzles zusammenzufügen, und jetzt hier in Madrid und in der Phase, in der ich mich in meinem Lebens- und Kunstprozess befinde, habe ich gefunden, worauf ich gewartet habe.

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Könnte man das mit dem Moment vergleichen, in dem Leonor Leal beschließt, sich die Haare abzuschneiden, um ihre Maske abzulegen und sie selbst zu sein?

Absolut, und das trifft es sogar ziemlich genau, weil ich viele Komplexe wegen meiner Haare hatte, die begannen mir auszufallen, als ich Mitte zwanzig war. Als ich mein Stück „Ver, oir y bailar“ letztes Jahr in Jerez präsentierte, habe ich den Schritt gewagt und mir gesagt: „Schau, Paco, lass den Scheiß, rasiere deinen Kopf auf Null und tanze wie du bist! Erlaube dir den Luxus, so zu sein, wie du bist, denn rückblickend hatte ich auf der Bühne immer Angst, ob meine Haare richtig liegen, ich ließ mich sogar operieren! … Und das ist genau das, was ich meinte, der Klassizismus, der im Tablao immer noch existiert, was das Bild des Bailaors betrifft, denn, auch wenn es unglaublich erscheinen mag, das Bild von mir in einem Tablao schockiert. Und ich weiß, dass es viele Manager gibt, die mich nicht mehr anrufen, seit ich mir den Kopf rasiert habe, weil mein Image in einem Tablao nicht passt, und das ist traurig, aber es ist wahr, es gibt immer noch diese Prototypen in der täglichen Welt der Tablaos, der klassischsten Festivals, es ist hart.

Aber seit ich mir den Kopf rasiert habe und gesagt habe ‚Paco, das bist du‘, da habe ich angefangen, meine Freiheit zu finden. Mit dem Alter und der Erfahrung sagt man sich: „Lasst mich in Ruhe, was kümmert es euch, ob ich Haare habe oder nicht, wie ich mich kleide und wie ich mich bewege“ – ich hatte früher richtige Komplexe, und jetzt sehe ich mich und sage mir: „Oh, wie cool! – und ich mag mich selbst.

Es ist interessant, weil wir Frauen sehr wenig über die Probleme nachdenken, die ein Mann mit seinem Körper haben kann, aber es ist wichtig, denke ich ….

Ich hatte viele Komplexe, und ich hatte vorher Angst, es zu sagen, und dieser ganze Prozess hilft mir, mich selbst und mein Image zu akzeptieren um ohne Angst zu tanzen.

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Ich erinnere mich an dein großartiges Stück in Jerez, da hattest du ja schon keine Haare mehr …

Ja, ja und ich starb fast vor Angst, aber ich hatte die Geschichte mit meinen Haaren so satt, und darüber nachzudenken, ob ich nach Barcelona fahre und mich noch einmal operieren lasse, und dann in Jerez, was für die Leute, die mich kennen, das ultimative Schaufenster ist, habe ich gesagt – ein kahlköpfiger Tänzer ist ein kahlköpfiger Tänzer und das war’s. Und ich werde weder der Erste noch der Letzte sein. Und diese Steinzeit-Manager, wie ich sie nenne, sollten ihren Geist öffnen und erkennen, dass das nicht so wichtig ist und dass ein Mensch gut singen, spielen und tanzen kann, egal wie sein Haar aussieht, ob er dick, dünn, klein oder groß ist.

Dabei war das Stück ja noch ziemlich traditionell, nicht wahr?

Ja, weil ich es brauchte. Ich musste dieses Stück zu einem Zeitpunkt in meinem Leben machen, als mein Körper danach verlangte. Ich habe lange in Sevilla gelebt und liebe den traditionellen Flamenco, ich sehe die Eleganz von Rafael el Negro, wenn er Bulería tanzt, und ich liebe sie, oder die Kunst von Enrique el Cojo, die Linien von Rafael de Córdoba, diese Ellbogen von Manuela Vargas. Damals lernte ich, und mein Körper forderte mich auf, etwas Traditionelles zu tun, um den Schritt zu dem zu machen, was ich jetzt tue, mehr in die Tiefe gehen, mehr Suche, denn ich denke, um zu einer anderen Form zu gelangen, muss man zuerst die Tradition kennen, sonst hat das, was man tut, überhaupt keinen Sinn. …

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Für dein neues Stück ‚Moscas y diamantes’ hast du mit neuen Leuten gearbeitet

Carlos Chamorro führt Regie, aber es waren auch andere Menschen da, ich habe zehn Tage lang mit Belén Maya gearbeitet, die mich choreografisch beraten hat, ich kam mit viel Angst, viel Hermetik, ich habe klassisch getanzt und wollte meine Linie markieren, aber ich hatte Angst, war total verspannt, auch durch die Last der Verantwortung, es richtig zu machen, darüber nachzudenken, was die Leute sagen werden, und ich hatte das Gefühl, nicht offen zu sein. Ich musste etwas in meinem Körper aufbrechen, und dafür wollte ich mit jemandem arbeiten, der mir auf diesem Weg helfen würde, und diese Person war Belén Maya, in meiner Abschlussarbeit beim Studium waren sie und ihre Methoden das Hauptthema. Ich habe mit ihr und mit Juan Carlos Lérida und David Montero gesprochen und dabei unglaublich viel gelernt. Sie haben gewisse Werkzeuge, die auf Improvisation und Theaterübungen basieren, um diese Verschlossenheit zu durchbrechen, die ich empfand, und um dorthin zu kommen, wo ich hin will, brauchte ich sie. Belén verstand, was ich wollte, und gab mir Aufgaben, um das zu erreichen. Sie hat mir sehr geholfen, meine Ängste und Belastungen loszuwerden, die mich behinderten: Soziale Ängste, Angst vor der Familie, Angst vor der Religion usw.

Versuche einer Person zu erklären, was sie in diesem Stück mit dem Titel „Fliegen und Diamanten“ sehen wird.

Oh, was für eine schwierige Frage! Aber ich will es versuchen:

Jeder Mensch trägt einen Diamanten in sich, und aus Angst vor dem, was als richtig gilt, was die Gesellschaft als richtig festlegt, was die Religion festlegt, was unsere eigene Familie darüber bestimmt, was man zu tun hat – lässt er diesen Diamanten nicht zum Vorschein kommen, und die Fliegen sind da, weil wir uns mit dem, was wir sein wollen, quälen, aber Angst davor haben, was sie sagen werden, davor, dass es ihnen nicht gefällt oder dass es nicht funktioniert.

Die Botschaft des Stücks ist, dass ich möchte, dass der Zuschauer am Ende über die Konsequenzen nachdenkt, wenn wir uns in vermeintlich korrekte Lebensmodelle pressen, die für mich vielleicht nicht stimmen. Für mich ist es nicht richtig, lange Haare zu haben, um eine Soleá zu tanzen, für mich ist es nicht richtig, wie mein Vater wollte, dass ich auf dem Dorf lebe, mit einem normalen Job und einer Familie, für mich ist das nicht richtig. Das Richtige für mich ist das Leben, das ich führe.

Und ich hatte große Angst, dorthin zu kommen, wo ich jetzt bin, Angst um meine Familie, um meine Religion, um mein soziales Umfeld, denn ich kam aus einer klassischen Flamenco-Welt, es war, als würde ich nicht tun, was ich tun will, weil jemand anderes das sagt und ich mich selbst verliere. In dieser Show möchte ich kein Drama aus meinem Leben erzählen – aber ich möchte, dass das Publikum wirklich nachdenkt und sich fragt: Lohnt es sich, die Dinge, die ich tun möchte, aus Angst aufzugeben?

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Spiegelt sich all dies auch in deiner Körpersprache wider?

Es gab Momente, da musste ich all diese Ängste loswerden, um dieses Stück machen zu können, und das spiegelt sich in einigen Szenen und in der Art, wie ich mich bewege wider, und auch in der Freiheit, die ich mir nehme, um all diese mentalen Belastungen loszuwerden.

Aber ist das für den Betrachter sichtbar?

Es ist ein Stück, das nichts mit dem vorherigen zu tun hat. Ich arbeite mit dem Flamenco, aber sie werden die neuen Formen des Tanzes sehen, nach denen ich suche.

Man muss schon sehr mutig sein, um diesen Weg zu wählen, warst du schon als Kind anders?

Ich, damit du es verstehst,musst du wissen, dass ich  aus einem sehr kleinen Dorf komme, und ich war die Dorftussi, weil ich Flamenco tanzte, und ich war anders. Als ich meinem Vater sagte, dass ich Flamenco tanzen wollte, und als ich mit 17 meinen ersten Vertrag bekam, um zum Tablao Cordobés zu gehen, und als ich ihm sagte, dass ich mich dem Flamenco widmen würde, schien es, als würde ich ihm sagen, dass ich in den Krieg ziehe! Das gab einen Aufruhr bei mir zuhause, und mein Vater verstand das nicht, denn in meiner Familie gibt es kein Interesse an Flamenco oder Musik oder irgendetwas Kulturellem, meine Familie ist eine bescheidene, hart arbeitende Familie aus dem Dorf, sie haben mir wunderbare Werte und eine wunderbare Ausbildung vermittelt, aber sie haben keine Ahnung vom Künstlerleben. Ich habe nicht die Unterstützung meiner Familie, aber der Grund darin liegt nur in ihrer Unwissenheit!

Ein Mensch, der in einer Stadt lebt, hat ein anderes Leben, es gibt ein Konservatorium, es gibt eine kulturelle Bewegung, aber in einem Dorf mit damals 5000 Einwohnern, stellen Sie sich vor, ich war die Dorftussi, weil ich getanzt habe, und als ich anfing, zur Akademie zu gehen, als ich etwas älter war, habe ich den Bus genommen, ich ging auf die Akademie und meine Vater glaubte, ich nehme an den außerschulischen Aktivitäten in der Schule teil. All das war schwierig für mich, und in deiner Art zu tanzen und in deinem Körper trägst du diese Lasten und diese Angst mit dir, und diese ganze Spannung, die ich beim Tanzen hatte, ist auf all diese Umstände zurückzuführen.

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Für ‚Moscas y diamantes‘ habe ich viel recherchiert, mich mit mir selbst beschäftigt und mit Belén und Carlos darüber nachgedacht, woher diese Angst kommt. Im Dorf musste ich meine sexuelle Orientierung verbergen, damit sie nicht auf mir herumhacken und nicht lachen, und mit meinem Vater habe ich nie darüber gesprochen, dass ich homosexuell bin, das war undenkbar, und ich verurteile ihn nicht, denn für einen 75-jährigen Mann mit einer anderen Erziehung ist es schwierig, das zu verstehen.

Also dieser Druck, den du um dich herum hast, im Flamenco selbst gibt es ja viele Klischees, in deiner Familie sagen sie dir, dass du nicht tanzen sondern einen normalen Job haben sollst und bei deinen Freunden im Dorf brauchst du den Mut, um ihnen zu sagen: ‚Lasst mich in Ruhe, lasst mich so sein, wie ich bin‘!

Alles, was ich dir gerade erzählt habe, ist die Geschichte von „Fliegen und Diamanten“. Die Zeit ist für mich gekommen, frei zu sein.

Vielleicht kommt der Ärger jetzt von woanders her, und sie werden sagen: ‚Du tanzt so gut, und jetzt fängst du damit an und machst diese komischen Sachen…‘.

Das ist mir egal. Ich erzähle meiner Mutter einige Dinge, mit ihr verstehe ich mich sehr gut- und natürlich begreift sie das nicht, ich erinnere mich, als ich ihr erzählte, dass Isamay Benavente mich wegen des Festival de Jerez angerufen hatte und sie sagte: „Aber Junge, was ist das? Ein Wettbewerb?“ Ich erzähle ihr diese Dinge und sie sagt: „Oh Fran, was für eine Schande, warum tust du das?

Vor einem Jahr hätte ich das alles noch nicht tun können, aber jetzt kann ich es. Ich arbeite seit Februar an diesem Stück und es hat mir sehr geholfen.

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Wer wird noch mit dir auf der Bühne stehen?

Die Gitarristin Antonia Jiménez, sie hat auch die musikalische Leitung, der junge Sänger aus Écija, Kiko Peña und der Perkussionist Iván Mellén. Eigentlich eine sehr klassische Formation, aber wir spielen viel mit dem Rhythmus, brechen die Dynamik des Compás, auch die E-gitarre spielt eine Rolle, es wird auf jeden Fall spannend.

Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg bei der Premiere am 12. November in Ronda!

Ich danke! Wir sehen uns in Ronda! Bis bald!

Francisco Hidalgo

‚Moscas y diamantes’

Premiere: 12.11.2022

Teatro Vicente Espinel, Ronda

Fotos: Beatrix Molnar und Künstlerarchiv

Text: Susanne Zellinger