Jesús Carmona wurde dieses Jahr verdienter maßen mit dem Premio Nacional de Danza 2020 ausgezeichnet. Hier lesen Sie das Interview aus dem Jahrbuch flamenco divino, das Sie nach wie vor bestellen können. Sein Auftritt bei der Bienal de Sevilla wurde leider wegen eines Falles von Corona in seiner Kompanie abgesagt, aber vielleicht klappt es ja im nächsten Jahr.

Jesús Carmona: Während die anderen Jungs Fussball spielten, tanzte ich

Jesús Carmona war schon im Konservatorium einer, dem alles leicht fiel, der Sprünge und Drehungen machte, für die andere Wochenlang üben mussten. Seine erste Maestra war die Mutter von Miguel Poveda. Im letzten Jahr wurde er bei den Latin UK Awards als bester internationaler Tänzer nominiert und sein Stück „Impetus“ gewann den ersten Preis für die beste internationale Tanzproduktion des Jahres.

Ihr Katalanen seid ja ziemlich stark vertreten im Moment…

Ich bin in Barcelona geboren, meine Eltern kommen aber aus Córdoba. Meine Mutter war immer Hausfrau, mein Vater fuhr mit dem Bierwagen und bei uns zuhause wurde auch wenig Flamenco gehört, ich bin also nicht vorbelastet. Meine Mutter erzählt immer, dass, immer wenn sie im Radio Musik hörte, ich mich bewegte und aufgeregt war, egal welche Musik da gerade spielte, ob Flamenco, Jazz oder was auch immer. Sobald ich sprechen konnte, sagte ich jedenfalls, dass ich Flamencotänzer werden wollte. Als ich sechs Jahre alt war, meldeten sie mich dann in einer Academia an und als erste Lehrerin hatte ich Sonia Poveda, die Mutter von Miguel Poveda. Das war ein großes Glück, denn sie lehrte mich nicht nur die ersten Schritte, sie hörte auch mit mir Musik und legte sozusagen das erste Samenkorn, dieses Flamencopflänzchen in meinen Bauch. Von da ging ich dann direkt ins Konservatorium, als ich etwas älter war.

Auch in Barcelona, oder?

Ja, meine Eltern hatten einen Olivenhain in Córdoba, wir waren natürlich öfter da und ich nahm Unterricht bei La Chata de Córdoba, aber sonst lernte ich immer in Barcelona. Wenn Eva Yerbabuena oder El Pipa nach Barcelona kamen, ging ich in ihre Kurse, der Flamenco war schon damals meine große Leidenschaft.

Als ich 16 war, kam das Nuevo Ballet Español mit Ángel Rojas und Carlos Rodríguez nach Barcelona um einen Kurs zu geben. Ich tanzte mit und sie engagierten mich vom Fleck weg in ihre Kompanie, ich ging also nach Madrid und das war der Beginn dieses verrückten Lebens.

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Während also die anderen Jungs Fußball spielten …

… tanzte ich. Ich erinnere mich noch, dass ich, als ich 10 war, eine kurze Krise hatte. Dass ich anders war, ich wurde nicht zu den Geburtstagen eingeladen, spielte nicht auf dem Spielplatz mit den anderen, mein Leben war ganz anders. Natürlich wollte ich auch ein normaler Junge sein, wer will in diesem Alter schon anders sein, aber da hat mir meine Mutter viel geholfen, sie sagte: „Lass dir Zeit, überstürze nichts, aber höre nicht auf zu tanzen.“ Aber wahrscheinlich hätte ich sowieso nicht aufgehört zu tanzen. Ich hätte vielleicht etwas später wieder angefangen. Der Tanz ist für mich alles und er nimmt einen so großen Platz in meinem Leben ein, ich habe es auch nie bereut.

Diesen Moment gibt es ja bei vielen Tänzern

Ja klar, das ist der Moment, in dem du begreifst, dass du auf viele andere Dinge verzichten musst, du legst sozusagen alles in eine Wagschale und musst die Kunst bedingungslos lieben, damit du ihr einen Teil deines Lebens geben kannst: Ich ging mit 16 Jahren nach Madrid, ganz allein, ich ließ meine Familie und meine Freunde zurück um meinen Traum zu leben.

In Madrid trat ich dann direkt in die Kompanie ein und begann zu tanzen, bei und mit Manolete, El Guito, Antonio Canales, aber wenn man mich nach meinen Lehrern fragt, sage ich immer „Sonia Poveda“. Bei ihr habe ich am längsten Unterricht genommen, sie lehrte mich Cante zu hören, sie sagte meiner Mutter, welche Sänger ich hören sollte, zuhause. Die anderen waren dann gleichzeitig Lehrer und Kollegen, weil ich mit ihnen auf der Bühne stand, in ihren Stücken und ich lernte durch die gemeinsame Arbeit.

Der Gesang nimmt in deinen Stücken immer einen großen Platz ein, er ist sehr wichtig für dich, das merkt man

Unglaublich wichtig. Ich suche meine Sänger immer nach zwei Kriterien aus: Nach den Anforderungen des Stückes aber vor allem, ob sie etwas in mir bewegen, ob sie mich inspirieren. Das erlaubt mir dann auch auf der Bühne zu improvisieren. Natürlich ist ein Großteil choreografiert und fixiert, aber erst die Improvisation macht es für mich lebendig.

Wo lernt man das?

Im Tablao, ganz ohne Zweifel. Das Tablao ist die wichtigste Schule. Da singen sie für dich und wenn du dich irrst, machst du es am nächsten Tag noch mal, oder auch nicht. Als Tänzer musst du eben auch Aficionado sein, Cante hören um reagieren zu können, wenn der Sänger eine Strophe plötzlich länger singt, weil er es so empfindet. Da musst du dann warten, bis er fertig ist, bevor du weiter tanzt und ihm den Eintritt in die nächste Strophe ermöglichst. Da kann alles Mögliche passieren, da wird vorher nichts abgesprochen. Im Tablao lernte ich zu improvisieren und das tue ich noch immer, da gehe ich nie mit einem durch choreographierten Tanz auf die Bühne.

Tanzt du immer noch in den Tablaos?

Ja, ja, im Corral de la Morería und im El Cordobés, das tue ich, weil ich es brauche. Nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern aus einer künstlerischen Notwendigkeit heraus. Das sind die Momente, in denen ich mein Gehirn ausschalte, ich tanze und höre den Cante und die Gitarre und das genieße ich.

In den Tablaos findet man ja ein ziemlich hohes Niveau heutzutage

Absolut! Das hat sich ziemlich verändert, früher bedeutete, wenn du im Tablao tanztest, dass du nicht gut genug für die große Bühne warst, aber die jungen Künstler denken heute anders. Für uns ist das eine Art der Befreiung, in den guten Tablaos kannst du Manuel Liñán sehen, Marco Flores oder Eduardo Guerrero, Künstler der allerersten Kategorie, und sie tun das nicht nur um Geld zu verdienen sondern vor allem um als Künstler zu wachsen.

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Was hast du als Künstler noch vor dir?

Ich arbeite gerade an einigen Projekten für 2020 und was ich da vor allem möchte ist, etwas mitteilen, keine Geschichten erzählen, sondern Dinge darlegen, klar stellen, die mir ein Anliegen sind, auch denen eine Stimme geben, die keine haben, ich denke, auch das ist unsere Pflicht als Künstler, uns mit den Problemen der Menschen oder der Gesellschaft zu beschäftigen.

Künstlerisch fühle ich mich im Moment sehr frei, ich habe einige Fesseln abgelegt, mit Fragen, ob ich jetzt Bailaor oder Bailarín bin, belaste ich mich nicht mehr. Oder mit dem ewigen Thema der „Pureza“, diese Katalogisierungen und Etikettierungen. Was ist denn der „Flamenco Puro“ überhaupt? Ist der Flamenco puro jetzt der aus dem Jahr 1920 oder der aus dem Jahr 1980? Ist nicht alles, was aus dem Nichts kommt oder neu geschaffen wird, puro, also rein? Wenn von einem Künstler aus den 80er Jahren gesagt wird, er tanze „puro“, was ist denn dann mit Carmen Amaya? Die war doch viel früher und tanzte auch „puro“, wie man hört.

Der Flamencotanz ist ja kein geschlossenes System, er ist für alles offen, natürlich muss ich als Tänzer die Wurzeln bewahren, mit ihnen in Verbindung bleiben. Aber im Flamenco ist für alle Platz, er ist unglaublich groß. Jede Entwicklung, wenn sie bewusst passiert und weiß, woher sie kommt, hat mit Intelligenz und mit viel Arbeit zu tun und sie verdient unseren Respekt.

Wie würdest denn du den Flamenco definieren?

Der Flamenco ist eine uralte Kunst, die von der Seele spricht und vom Schlag deines Herzens. Wenn Menschen sich hinsetzen, um Flamenco zu sehen, egal welcher Art, müssen sie bereit sein zu fühlen und nicht so sehr zu verstehen. Sich von diesen Eindrücken, von diesen Formen, von dieser Musik und von diesen Klagegesängen umhüllen zu lassen, von jenen Bewegungen, die am Ende in jeder Sprache verständlich und lesbar sind. Wir sind durch die ganze Welt gereist und die Menschen waren begeistert, und wenn sie begeistert sind, dann weil es ihr Herz erreicht. Und manchmal wissen sie nicht, warum, und wenn sie zu dir kommen und du ihnen keine Erklärung geben kannst, ist das Flamenco.

TEXT: SUSANNE ZELLINGER // FOTOS: MIGUEL GARROTE // TITELBILD: BIENAL DE FLAMENCO